Inneres leuchten

Zwischen Social Media und Alltagshektik sucht Anna die Ruhe im Wald. Die 28-Jährige leitet Waldbaden und Beratungsspaziergänge.

„In der Natur bin ich in meinem Element“

Anna ist 28 und hat vor einigen Jahren endlich gefunden, was ihr fehlt: Achtsamkeit in der Natur. Ihr Weg dorthin war lang und voller Zweifel. Aber jetzt vereint die ehemalige Germanistik-Studentin beruflich alles, was ihr Kraft und Freude gibt: Waldbaden, Spaziergänge und Schreiben.

Für einen Moment hält Anna inne. Sie sitzt auf einer Bank, schließt die Augen und spürt die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie hört die Geräusche um sie herum. Vögel zwitschern. Der Wind streift durch die Blätter der Bäume und weht ihr die dunkelbraunen Haare ins Gesicht. Die Insekten brummen so laut, dass es sich fast schon wie ein Rasenmäher anhört. Keine hupenden Autos, keine surrende Straßenbahn. Und das mitten in Bonn. Fast jedenfalls. Auf dem Venusberg erstreckt sich ein weites Moor- und Waldgebiet, die Waldau. Hier ist Anna am liebsten. Die Waldau ist für sie fast schon ein zweites Zuhause. Nicht nur privat, sondern auch beruflich kommt sie häufig hierhin. 

Eintauchen in den Wald

Anna ist ausgebildete Heilpraktikerin für Psychologie und leitet seit einem Jahr Beratungsspaziergänge und Waldbaden. Letzteres hat nur im übertragenen Sinn etwas mit dem klassischen Baden zu tun. Ursprünglich kommt die Therapieform aus Japan, genannt „Shinrin Yoku“, und bedeutet so viel wie „ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen“. Das Konzept gibt es schon seit den 80er Jahren in Japan und auch in Bonn bieten mittlerweile einige Personen geführtes Waldbaden an. 

Anna erzählt, für das Waldbaden geht sie mit einer Gruppe in den Wald und spürt dabei mit allen Sinnen die Elemente der Natur. Eine Technik aus der Gestalttherapie ist für die Klientinnen ist dabei immer Programm. Jede hat etwa zehn Minuten Zeit, um sich einen Gegenstand aus dem Wald zu suchen, in dem sie sich persönlich wiederfinden kann. Den Gegenstand stellen die Teilnehmerinnen dann in der großen Runde vor. Dabei arbeiten sie vor allem mit ihrem Unterbewusstsein, indem sie die Natur als Spiegel von sich selbst erkunden. „Ich möchte andere Menschen dabei begleiten, sich selbst zu finden und sich selbst zu begegnen“. Durch die Gestalttherapie und andere Achtsamkeitstechniken lernen sich die Klientinnen auch untereinander kennen, finden Gemeinsamkeiten und können sich in einer sicheren Runde aussprechen. Das sei einer der Vorteile am Waldbaden. Die Gruppen sollten dafür jedoch nicht zu groß sein, maximal zwölf Teilnehmerinnen können bei einer der zweieinhalbstündigen Touren mitmachen. Anna bietet auch Beratungsspaziergänge an. Die finden unter vier Augen statt, gestalten sich aber ähnlich wie das Waldbaden. Während Anna beim Waldbaden meistens neue Leute kennenlernt, die diese Therapieform einmalig ausprobieren wollen, melden sich bei den Beratungsspaziergängen häufig auch erfahrene Klientinnen an. 

Ein steiniger Weg zur Freiheit

Heilpraktikerin zu sein, war für Anna nicht immer ein Ziel. Wie im Klischee hat sie ihre berufliche Aufgabe durch eine eigene Krise gefunden. Ursprünglich wollte sie Journalistin werden. Dafür studierte sie Medienwissenschaften und Germanistik. Aber auch wenn ihr das Studium Spaß machte, hatte sie nie das Gefühl, sie selbst zu sein. „Ich wusste gar nicht, wer ich bin“. In ihrem Auslandssemester in Amsterdam ging es ihr mental sehr schlecht. Sie litt unter Panikattacken und fühlte sich komplett verloren. Auch wenn die Zeit für Anna sehr schwierig war, schaffte sie es 2018, ihr Studium abzuschließen. Danach hat sie sich etwas Zeit genommen, um herauszufinden, was sie wirklich glücklich macht. In ihrer eigenen Therapie hat sie gemerkt, wie wichtig mentale Gesundheit eigentlich ist. Das und ihre Liebe zur Natur haben sie dazu motiviert, Menschen durch naturbezogene Therapieformen bei psychischen Problemen zu helfen. „Ich habe gemerkt, dass ich so ein inneres Leuchten bei Naturbegegnungen habe“.  

Dass Anna keine Psychotherapie von studierten Psychologinnen ersetzen kann, ist ihr bewusst. Selbst wenn sie nochmal von vorne anfangen könnte zu studieren, würde sie sich wahrscheinlich gegen ein Psychologiestudium entscheiden, erzählt sie. Sie fühle sich mit ihrem derzeitigen Beruf viel freier und unabhängiger. Und die Beratungsspaziergänge helfen nicht nur den Klientinnen, sondern auch Anna selber. Mit jedem Mal erfährt sie die Natur auf eine unterschiedliche Art und Weise. Ob Winter oder Sommer, jede Jahreszeit habe ihre Schönheiten, sagt Anna. 

Mit ihrer ruhigen Stimme und ausgeglichenen Art wirkt sie wie eins mit ihrer Leidenschaft. Alles an ihr strahlt eine innere Ruhe aus. Ihre aufrechte schlanke und große Statur, die helle Kleidung, die sie trägt und ihre eisblauen Augen. Auf dem Spazierweg bleibt sie stehen und zeigt auf einen kleinen See im Moorgebiet, mitten im Wald. Der See wirkt magisch. „Hat was von Twilight oder so“, lacht Anna, die Szenerie wirkt fast schon übernatürlich

Auf die Balance kommt es an

Schon einige Male in ihrem Leben hat Anna Situationen erlebt, die sich fast übernatürlich angefühlt haben. Sie ist sehr spirituell, interessiert sich für Heilsteine und Astrologie. Jeder Mensch lebt mehrmals auf der Erde, in welcher Form auch immer, davon ist Anna überzeugt. Für Anna hat alles, was im Leben passiert, einen Grund. „Es hilft mir, dass es etwas Größeres gibt als mich selbst. Spiritualität bedeutet, dass das Leben immer für mich ist. Es ist immer nur eine Frage, was man daraus macht“. Diese Lebenseinstellung hat ihr bei ihrer Reise zur Selbstfindung sehr geholfen. Einer Reise, die nie zu Ende ist. 

Was bei der Selbstfindung wichtig ist, ist Innehalten – besonders in der heutigen Welt, die so sehr von Social Media geprägt ist, betont Anna. Auch in ihrem Leben spielt Social Media eine große Rolle. Psychologische Heilpraktikerin ist sie nämlich in Teilzeit. Die andere Hälfte ihres Berufslebens füllt ein Job als Social-Media-Managerin, der oftmals mit viel Stress verbunden ist.  Auch wenn diese beiden Berufe manchmal ganz schön gegensätzlich sein können, braucht Anna die Abwechslung. Denn sie möchte sich immer wieder neuen beruflichen Herausforderungen stellen. Deshalb kann sie sich auch nicht vorstellen, in Vollzeit Beratungsspaziergänge und Waldbaden zu machen. Sie braucht den Ausgleich und nimmt von beiden Seiten wichtige Erfahrungen für die jeweils andere mit. Bei ihren Klientinnen merkt sie, dass es durch Social Media für viele schwierig ist, zur Ruhe zu kommen. Andererseits teilt Anna ihre eigenen Erkenntnisse auf Social Media, um dort mehr Achtsamkeit einzubringen. Meistens teilt sie dafür ihre Gedanken, aufgeschrieben oder gesprochen, und lässt ihre Follower durch ruhige Videos in ihre Naturspaziergänge eintauchen. 

Für die Zukunft überlegt sie, an einer Heilpraktikerschule zu unterrichten oder sogar wieder in den Journalismus zu gehen. Jetzt, wo sie ihren Platz gefunden hat. Wo sie endlich sie selbst ist und sich nicht, so sagt sie selbst, „wie eine Schauspielerin in einer Rolle gefangen“ fühlt. 

Anna sitzt noch auf der Bank und schaut durch die Bäume auf eine Wiese. Die Sonne lässt alles in einem hellen Grün erstrahlen. Anna hält inne, schließt die Augen und hört jedes Geräusch um sie herum. Die Vögel, den Wind und die Insekten. Alles ist so wie es sein soll

Alina Langreck
Alina Langreck

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